Profile 1-2021

W ie lang ist eigentlich ein Moment? Das ist eine Frage, die Philosophen, Biologen und Mathe- matiker sicherlich jeder für sich und jeder anders beantworten würden. Zwar lässt sich nachlesen, dass es sich bei dem „Moment“ um eine eng- lische Zeiteinheit handelt, die exakt 90 Sekunden misst. Doch als Lebenshilfe taugt diese Auskunft wenig. Der Berliner Professor Georg W. Bert- ram, der an der dortigen Freien Univer- sität unter anderem zu Ästhetik, Er- kenntnistheorie und Sprachphilosophie forscht und lehrt, hat in einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ einmal den Augenblick charakterisiert: „Er gehört nicht zu der Form von Zeit, wie die Uhr sie misst – der Zeit, die für alle auf glei- che Weise vergeht. Der Augenblick ge- hört zur erlebten Zeit. Es handelt sich um eine sehr kurze Zeitspanne, die einen in bestimmter Weise ergreift. Man kann diese Besonderheit des Augenblicks da- durch charakterisieren, dass man ihn als eine Erfahrung bezeichnet, die ein ästhe- tisches Moment aufweist.“ Gleiches lässt sich wohl für den Moment beanspru- chen. Und so kann ein Moment auch mal 24 Stunden dauern – wie bei dem sozialen Netzwerk Snapchat. Alles, was dort in der App gepostet und geteilt wird, ver- schwindet innerhalb eines Tages wieder. Das ist der besondere Reiz dieser Kom- munikation: Die sogenannten Snaps sind flüchtig. In einer Zeit, in der das Internet nichts vergisst, digitale Kom- munikation also ewig währt, sind 24 Stunden in der Tat nur ein Wimpern- schlag. Social-Media-Experten wissen, was die Posts auf Snpachat ausmacht: Während ein scheinbarer Schnappschuss auf Instagram das Ergebnis eines mehr- stündigen Shootings oder eine geübte Pose sein kann, lebt Snapchat die „Scho- nungslosigkeit des Moments: Jeder kann so sein, wie er will“, brachte es die Auto- rin Julia Wadhawan in dem Magazin „absatzwirtschaft“ vor einigen Jahren einmal auf den Punkt. DEM KLICK-MOMENT AUF DER SPUR 249 Millionen Nutzer weltweit stützen diese Philosophie, in Deutschland liegt die maximale Reichweite aktuell bei 14,2 Millionen Nutzern. Das Netzwerk war schon totgesagt, doch es wächst, auch in Zeiten der Pandemie. Vor allem junge Leute spüren hier dem Moment nach: 72 Prozent der deutschen Nutzer sind bis 24 Jahre alt. Der Klick-Moment – er kann ein bitter- süßer oder der Moment der Vernunft sein: der Moment, in dem man sich ver- liebt, in dem man sich eingesteht, dass eine Beziehung zu Ende ist, dass man den Job wechseln muss, dass es Zeit ist, etwas für die Gesundheit zu tun, abzu- nehmen. Wer sich durchs Internet klickt, Jahrelang war es angesagt, den Tag zu nutzen – und zwar am besten jede Sekunde, jede Minute sinnstiftend auszufüllen. Nicht zuletzt Corona zeigt uns, worauf es jetzt wirklich ankommt: den Moment zu genießen. Foto: Averie Woodard/unsplash PROFILE 1–2/2021 11

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