Fotos: AdobeStock/S.Kobald/mirahands/Syda Productions, Charlotte Fischer „Digitale Ablenkung schadet der Beziehungsfähigkeit“ Interview mit Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter Warum lassen wir uns so leicht von digitalen Medien ablenken? Einerseits hat das mit der Frühgeschichte des Menschen zu tun: Wir lassen uns fesseln von bunten, schrillen Außenreizen, weil es evolutionär ein Vorteil war, schnell zu reagieren: Der Außenreiz könnte ja ein Tiger sein, der uns angreift, oder ein Beutetier, das uns sonst entwischt. Zweitens enthalten die beliebtesten digitalen Apps und Games fast immer auch suchterzeugende Elemente. „Addiction by design“ bedeutet, dass die Nutzer zum Beispiel durch Glücksspiel-Elemente zu mehr und mehr Konsum verführt werden sollen. Welche Folgen hat die digitale Ablenkung von Eltern für Babys und Kleinkinder? Wenn Eltern über längere Zeiträume wiederholt digital abgelenkt sind, kommt es zu einer Schädigung der Beziehungsfähigkeit beim Kind. Der Aufbau einer sicheren Bindung leidet, wenn die Eltern als körperlich anwesend, aber emotional nicht verfügbar erlebt werden. Man nennt das auch „absent presence“. Die Sprachentwicklung, die soziale Entwicklung und die kognitive Entwicklung werden nach Forschungsstand ebenso beeinträchtigt. Welche Form der Nutzung digitaler Medien schadet der Entwicklung von kleinen Kindern am meisten? Gibt es besonders kritische Situationen? Audiomedien im Hintergrund, z. B. ruhige Musik, schaden am wenigsten. Wenn die Aufmerksamkeit der erwachsenen Bezugsperson aber ganz von dem digitalen Medium absorbiert ist, fehlt der Blickkontakt zum Kind. Es fehlen auch die feinfühlige Begleitung, die Ansprache und die Reaktion auf die zarten Signale des Babys. Besonders wichtig sind Feinfühligkeit und Aufmerksamkeit beim Stillen und Füttern, beim Wickeln oder Baden. Die erste Begegnung am Morgen und besonders auch die Zeit vor dem Schlafengehen sind kritische Situationen, in denen Technoference, also die digitale Abgelenktheit von Eltern besonders schädlich wirkt. Heute gehört das Smartphone zum Leben dazu. Wie können junge Eltern es ohne schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern nutzen? Worauf sollten Sie achten? So oft es geht, sollten junge Eltern die Smartphonenutzung auf diejenigen Zeiten verschieben, wenn das Baby schläft oder durch jemand anders gut betreut ist. Das ist aber nicht immer möglich. Dann können Eltern Verwirrung beim Kind vermeiden, wenn sie sich beim Kind sozusagen „abmelden“, bevor sie in die digitale Ablenkung gehen. Sagen Sie klar und deutlich, auch bei kleinen Kinder, die noch kein Deutsch verstehen: „Entschuldigung, ich muss mich jetzt kurz um etwas anderes kümmern.“ Wenn zusätzlich der Blick abgewandt wird, dann vermeidet man Fehlinterpretationen. Vielleicht kennen Sie ähnliche Situationen: Neulich saß ich im Zug und beobachtete ein Baby, das seine Mutter an den Haaren zog. Sie lachte gerade über ein lustiges Video auf dem Smartphone. Ein paar Minuten später zog das Baby wieder an den Haaren – und wurde ausgeschimpft. Aber woher sollte das Baby wissen, dass die Mutter nicht auf das Haareziehen, sondern auf etwas ganz anderes reagiert hat, als sie lachte? Kann die Nutzung von Smartphone & Co. auch positive Aspekte für Eltern von kleinen Kindern haben? Wenn ja, welche sind das? Es gibt viele Beispiele, wie Kinder indirekt profitieren, wenn ihre Eltern das Smartphone dosiert, kritisch und aktiv nutzen: Termine für U-Untersuchungen vereinbaren, in Krisensituationen schnell eine Hebamme oder gute Freundin anrufen und sich Rat holen, statt Einkauf auch mal eine Essenlieferung per App bestellen, gelegentlich und unaufdringlich Erinnerungsfotos knipsen, schöne Kinderlieder oder Fingerspiele recherchieren, die sie dann mit dem Kind spielen können. In diesen Fällen beeinträchtigen die Medien nicht den menschlichen Kontakt, sondern erleichtern den Eltern den Alltag, sodass sie gelassener und achtsamer mit dem Kind umgehen können. unserbaby.net dene Studien in den vergangenen zehn Jahren wissenschaftlich erforscht, zuletzt eine große Metastudie in Australien, bei der 21 Forschungsarbeiten mit fast 15.000 Teilnehmern aus zehn Ländern ausgewertet wurden. Fazit: Kinder von Eltern, die oft zum Handy griffen, hatten häufiger kognitive und emotionale Probleme und eine weniger enge Bindung zu ihren Eltern. Auch ihr Sozialverhalten war schlechter. Ablenkung bedeutet Stress Die Forschung hat für die Ablenkung durch digitale Medien bereits einen eigenen Begriff gefunden: „Technoference“ ist ein Kunstwort aus dem englischen „technology“ und „interference“ (deutsch etwa „Störung“). Um lernen und verstehen zu können und um Geborgenheit zu erleben, brauchen Kinder die Zuwendung ihrer Eltern. In dem Moment, in dem Mama oder Papa statt aufs Baby auf ihr Smartphone schauen, wird diese gestört – das verursacht bei den Kleinen Stress. Denn für die Entwicklung ist es elementar wichtig, dass Eltern feinfühlig auf die Signale ihrer Kinder reagieren. Sind sie abgelenkt, fällt ihnen das schwer. Bildschirmfreie Zeiten Optimal wäre es wohl, wenn Mütter und Väter in Gegenwart ihrer Kinder ganz aufs Smartphone verzichten würden. Doch das ist in unserer heutigen Gesellschaft nicht realistisch und würde andere Nachteile mit sich bringen. Ziel kann es laut Experten daher nur sein, die eigene Bildschirmzeit im Beisein des Babys einzuschränken und in bestimmten Situationen ganz auf digitale Ablenkung zu verzichten. Wenn ihr euer Baby ins Bett bringt, beim Stillen und Füttern oder beim gemeinsamen Spiel, solltet ihr das Handy zur Seite legen und euch voll und ganz auf die gemeinsame Zeit mit eurem kleinen Liebling konzentrieren. Babys genießen es, wenn sie die volle Aufmerksamkeit haben, zum Beispiel beim Vorlesen. 29
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