Profile 3-2022

Ob Politiker, Influencerinnen oder Markenbotschafter – sie müssen vor allem eines sein: authentisch. Authentizität ist zu einem der wichtigsten Begriffe in der gesellschaftlichen Diskussion, aber vor allem im Marketing und Vertrieb geworden. Und es ist ein positiv besetzter Begriff. Authentisch zu sein, gilt als Erfolgsmodell. Doch was ist Authentizität überhaupt? Ein allgemeingültiges Verständnis darüber gibt es nicht. Während die einen es vor allem über Abgrenzung definieren – also ehrlich statt verlogen, tiefsinnig statt oberflächlich und echt statt aufgesetzt, – sehen andere darin eine Haltung. Das heißt: Jemand steht zu seinen Idealen, zu seiner Meinung, zu seinem Lebensstil. Sportlerinnen, Aktivisten und Künstlerinnen, die ihre eigenen Erfahrungen öffentlich und so auf Diskriminierung und Ungleichheit aufmerksam machen, sind authentisch im besten Sinne. Sie sind Mutmacherinnen und Vorbilder. Schwieriger gestaltet sich dagegen Authentizität im täglichen Miteinander. Sie kann nicht nur viel Porzellan zertrümmern, sondern auch zum Bumerang werden. Wer die eigenen Befindlichkeiten konsequent auslebt, mag zwar authentisch sein, nervt und verletzt aber unter Umständen sein Umfeld. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen mit unverblümter Ehrlichkeit nicht gut umgehen können. Sätze wie „Die Präsentation war schlecht“, „Dein Kuchen ist ungenießbar“ oder „Das Kleid macht dich dick“ treffen ins Mark und gelten daher zurecht als No-Gos. Also dann lieber doch höflich, aber verlogen? Fast scheint es so, denn selbst wer auf die Standardfloskel „Alles gut?“, mit einem klaren „Nein“ antwortet, muss damit rechnen, dass bereits diese Art von Offenheit komplette Hilflosigkeit auslöst. FORMALE UMGANGSFORMEN ERLEICHTERN DAS MITEINANDER Für den Wiener Philosoph Robert Pfaller ist der Weg aus diesem Dilemma die formale Höflichkeit. Zwar gelten traditionelle Umgangsformen als altbacken, doch sie erleichtern den sozialen Umgang ungemein und sind entscheidend für ein gutes Miteinander, wie Pfaller im Gespräch mit dem Deutschlandfunk anlässlich seines Buchs „Mit blitzenden Waffen“ erläuterte. „Höflichkeit ist immer echt“, betonte da der Wiener Philosoph, gerade weil sie eine „reine Form“ sei: „Immer, wenn es höflich aussieht, dann ist es auch höflich“, so sein Fazit. Was Pfaller damit meint: Wer sich bewusst entscheidet, höflich zu sein, meint es auch so. Die Höflichkeit ist daher weder verlogen noch oberflächlich, sondern höchst authentisch. Und mit diesem Verständnis lassen sich sowohl fehlerhafte Präsentationen als auch missglückte Kuchen höflich und respektvoll kommentieren. Es ist nichts weniger als die hohe Kunst der konstruktiven Kritik oder schlicht der Diplomatie. Und noch etwas spricht für mehr Höflichkeit und Großzügigkeit im Alltag. Wer sich selbst zurücknimmt, nicht das eigene Ich in den Mittelpunkt stellt, wird nachweislich glücklicher und zufriedener. Forscher der Universitäten Lübeck und Zürich und der Feinberg School of Medicine in Chicago haben in einer Studie herausgefunden, dass Großzügigkeit gegenüber Mitmenschen direkt mit dem Glücksempfinden verknüpft ist. Und so kann die höfliche, aber ehrlich gemeinte Frage „Wie geht es dir?“ der Auftakt zu einem tiefsinnigen und ehrlichen Gespräch sein. Beim unverbindlichen „Alles gut“ ist das dagegen weder als Frage noch als Antwort erwünscht. Susanne Mittenhuber Einst galt Höflichkeit als Tugend, heute wird diese Eigenschaft entweder belächelt oder geschmäht. Höflichkeit wird mit überkommener Etikette, Oberflächlichkeit und vor allem mangelnder Authentizität assoziiert. Doch höflich und authentisch müssen kein Widerspruch sein. Wenn höflich sein, authentisch bedeutet Foto: Edu Lauton/Unsplash 25 PROFILE 3/2022

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==