Profile 6-2021

U m den aktuellen Hype um das Live-Shopping zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergan- genheit. Lange bevor Online- Shopping die Kundinnen und Kunden von den Innenstädten auf das Sofa lockte, bot Tele-Shopping die Alter- native zum Vor-Ort-Kauf. Der Mix aus Unterhaltung und Produktpräsentation war die Errungenschaft der 1990er Jah- re. Dass Tele-Shopping keineswegs ein Auslaufmodell ist, sondern zu den Coro- na-Profiteuren zählt, zeigen die aktuel- len Auslieferungszahlen von QVC. 2020 wurden über den Sender weltweit 239 Millionen Produkte verkauft, fünf Jahre zuvor waren es noch 169 Millionen. Für 2021 rechnet das Unternehmen mit ei- nem weiteren Anstieg. Live-Shopping heißt das neue Zauberwort, das bei Kundinnen und Kunden Begehrlichkeiten weckt und wieder Lust aufs Shoppen macht. In China ist das Verkaufen per Live-Stream im Internet bereits ein Milliarden Geschäft – ein Konzept, das auch dem Einzelhandel hierzulande Chancen bietet. EMPFEHLUNGEN UND PERSÖNLICHE ERFAHRUNG So unterschiedlich die Kanäle Live- Shopping und Tele-Shopping auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie bieten nicht nur ein bestimmtes Produkt in ei- nem bestimmten Zeitraum zu einem gu- ten Preis an, sie zelebrieren es regelrecht. Das Produkt wird präsentiert, in Szene gesetzt und kommentiert. Und während beim Tele-Shopping die Zuschauer per Telefon oder seit neuestem auch via WhatsApp Fragen stellen können, wird beim Live-Shopping gechattet. Kurzum: Das Shoppen wird zum interaktiven Event und unterscheidet sich damit grundlegend vom Online-Shopping, bei dem die potenzielle Kundin alleine durch Seiten und Produkte scrollt. Im Idealfall ist beim Online-Shoppen der Warenkorb dank vieler Touch-Points und einer perfekten Customer Experi- ence am Ende prall gefüllt. Läuft es we- niger gut, verlässt die überforderte und frustrierte Kundin den Online-Shop, ohne etwas gekauft zu haben. Beim Live- Shopping wird diese Möglichkeit weit- gehend ausgeschlossen. Die interessierte und potenzielle Kundin ist einbezogen – entweder durch eigene Chats oder durch Beiträge anderer. Frage und Kom- mentare aus den Chats werden aufgegrif- fen, es entsteht eine eigene Dynamik, die Begehrlichkeit wächst. Hinzu kommt, dass Live-Shopping einen anderen Trend perfekt bedient: Authentizität und per- sönliche Erfahrung beziehungsweise Empfehlung. Der- oder diejenige, die beispielsweise ein neues Serum oder ein Lipgloss vorstellt, stellt die eigene Erfah- rung in den Vordergrund. Egal ob Tex- tur, Duft oder Wirkung des Beautypro- dukts – es ist immer das eigene Erleben und die eigene Wahrnehmung, die be- schrieben wird. Vertrauen in eine Marke oder ein Unternehmen wird so aufge- baut, was angesichts des Überangebots an Informationen und Produkten auf den unterschiedlichen Kanälen immer wichtiger wird. GLAUBWÜRDIGKEIT DURCH IMPERFEKTION Live-Shopping ist zudem der Gegenent- wurf zur durchgestylten, aber anonymen Produktpräsentation. Live-Shopping funktioniert auch von der Küche oder vom kleinen Innenstadtladen aus, etwa nach Ladenschluss als einstündiges After Work-Event mit Extrarabatten oder als digitaler Sonntagsbrunch, wo man nicht nur shoppen kann, sondern auch ein paar Tipps dazu bekommt. Gerade das Imperfekte und die Improvisation ma- chen Live-Shopping glaubwürdig. Die Nutzer können beim Testen und Aus- probieren zusehen, bekommen Einbli- cke in das Unternehmen und lernen die Menschen hinter den Produkten ken- nen. Mehr Kundennähe ist digital kaum möglich. Live-Shopping ist in China mittlerweile Standard beim Online-Kauf, angetrie- ben vor allem von Influencern. Mit durchschnittlich 50.000 Livestreams und über 260 Millionen Views täglich werden Shopping-Streams allein in die- sem Jahr in China nach Prognosen des Marktforschungsinstituts Coresight Re- search einen Umsatz von 300 Milliarden PROFILE 6/2021 19

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