Profile 4-2021

heit Von ihnen entschieden sich ganze 30 Prozent zum Kauf einer Konfitüre. Shee- na Iyengar zeigte mit ihrem einfachen Experiment, dass viele Möglichkeiten keinesfalls automatisch positiv sind. Im Gegenteil: Ab einem bestimmten Punkt führen sie zu Überforderung und Unsi- cherheit. Jeder, der sich schon einmal im Supermarkt von der riesigen Auswahl an Joghurtsorten erschlagen fühlte und froh war, wenn er endlich die eine bekannte und vertraute Sorte entdeckte, wird sich in diesem Experiment wiederfinden. Auch mit der Freiheit beim Reisen ist es so eine Sache. Wer noch nicht im Urlaub war oder gerade ist, sitzt auf gepackten Koffern. Und wo geht es hin? Vermut- lich dahin, wo man vor Corona auch war. Rein theoretisch könnte man in 195 Ländern Urlaub machen, doch die meis- ten schätzen die Vertrautheit ihres Ur- laubsortes. Drei, vier, vielleicht auch fünf Ziele kommen überhaupt in Frage. Nicht wenige verbringen ihren Urlaub immer am gleichen Ort. Die Verheißung von Freiheit und Abenteuer, der Reiz des Unbekannten, die Lust am Entdecken, die Neugier auf Neues – all das scheint für sie eher etwas Abschreckendes zu ha- ben. Persönliche Freiheit kann also auch das Festhalten am Gewohnten bedeuten. DAS PERSÖNLICHE HANDELN HAT AUSWIRKUNGEN AUF ANDERE Die Philosophin Sabine Döring stellt in einem Gastbeitrag für das Magazin Spie- gel die grundsätzliche Frage nach dem „Weitermachen wie bisher“. „Wir hatten uns an das Privileg gewöhnt, das gute Le- ben als eine Art Privatsache zu behan- deln. Porsche fahren? Fleisch essen? Fünf Fernreisen pro Jahr? Heiraten? Kinder bekommen? Drogen? Schulmedizin oder Homöopathie? Entscheiden wir selbst! Die Pandemie hat dieses Selbstverständ- nis ins Wanken gebracht. Sie ruft uns ins Bewusstsein, dass das Recht auf Freiheit endet, wo die Freiheit des anderen be- ginnt.“ Es ist wohl noch zu früh, um zu sagen, wie und in welcher Form der Corona- Schock nachhallt. Im Moment genießen die meisten Menschen die neue Freiheit nach Corona. Ganz unmittelbar und ganz persönlich. Mit Konsum und ana- logem Shoppen, mit Restaurantbesu- chen und Menschen zum Reden und Lachen und vor allem mit Reisen. Schließlich gilt es, viel nachzuholen. Und dann gibt es ja noch die Furcht, dass es mit der Freiheit ganz schnell wie- der vorbei sein könnte. Das Schreckge- spenst einer erneuten Welle im Herbst geht um. Sabine Dörings Ausblick ist daher zwiespältig: „Reisen und Konsum werden integrale Bestandteile des guten Lebens bleiben. Zu Recht erwarten wir nach der Pandemie Belohnung für Pflichterfüllung und werden uns unseres Glücks nicht von Asketen und Moralis- ten berauben lassen. Jedoch werden wir, statt uns blind grenzenlosem Lustgewinn hinzugeben, jede Quelle des Glücks kri- tisch auf ihre Auswirkungen auf andere hin prüfen müssen.“ Susanne Mittenhuber Foto: Unsplash/Designercologist PROFILE 4/2021 35

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==